Tabuthema Tod
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20. Februar 2020Begriffsbestimmung
Wenn wir die genaue Begriffsbestimmung aus einem medizinsichen Wörterbuch lesen, erkennen wir schnell, wie umfassend die Symptomatik einer Depression ist und wie gravierend sich diese im Leben des Erkrankten und seiner Familie auswirkt.
„Depression: krankhaft gedrückte Stimmung bzw. Traurigkeit als häufige z. T. unspezifische psychische Störung, bei der es zu einer Gehemmtheit aller psychischen Abläufe (Denkhemmnung) und parallel der Motorik (bis zu depressivem Stupor [Bewegungslosigkeit]) kommen kann. Größte Gefahr bei der Depression ist die Suizidabsicht, die bei plötzlicher Antriebssteigerung in die Tat (Suizid, erweiterter Suizid) umgesetzt werden kann. … Die unterschiedliche Art und Ausprägung des depressiven Bildes und des Beiwerks an Symptomen (Selbstvorwürfe, Zwangserscheidungen, angstvolle Unruhe, Jammern, Hypochondrie, Mißtrauen, auch subjektiv empfundene Gemütsarmut, vegetative Störungen wie Schlaf- und Appetitlosigkeit usw.) kennzeichnen das Erscheinungsbild als gehemmte Depression, stille Depression und larvierte (versteckte) Depression: als gehetzte bzw. ängstlich-agitierte Depression, argwöhnische bzw. paranoide, teilnahmsarme, selbstquälerische, anankastische (zwanghafte), hypochondrische, vegetative u. a. Depression.“ (Wörterbuch der Medizin, Bd. 1, VEB Verlag Volk und Gesundheit Berlin 1984)
Wie stellt man sich allgemein einen alten Menschen vor? „Wie alt?“ – dürfte sofort die Gegenfrage lauten. Als ich zur Schule kam, fand ich meine Mutter schon recht alt; sie war 32. Inzwischen ist sie 67 und würde mir schön was erzählen, wenn ich sie als „alt“ bezeichnete.
Das Alter wird dennoch oft als der Lebensabschnitt verstanden, in dem es keine Freude mehr gibt, wo Trauer und Einsamkeit die Zunahme der körperlichen Gebrechen noch verschlimmern. Entsprechend angstvoll sehen viele dem Älterwerden entgegen.
„Depressive Syndrome gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter. Ihre Ursachen, Erscheinungsbilder und Symptome sind vielfältig. Häufig steht das Körperliche, nur teilweise bedingt durch die somatische Komorbidität, im Vordergrund. Hierzu kommt, dass Altern immer wieder gleichgesetzt wird mit resignativer Verstimmung und Lebensüberdruß. Dies führt dazu, dass Depressionen noch zu häufig verkannt und zu selten diagnostisiert werden. Die Folge davon sind oft sehr lange, leidvolle Krankheitskarrieren, die im Pflegeheim oder insbesondere im Suizid enden können.“ (Depressionen im Alter, Steinkopf Darmstadt 1997, Vorwort)
[Als Komorbidität wird ein zusätzlich zu einer Grunderkrankung (Indexerkrankung) vorliegendes, diagnostisch abgrenzbares Krankheits- oder Störungsbild bezeichnet. Komorbiditäten können, müssen aber nicht – im Sinne einer Folgeerkrankung – ursächlich mit der Grunderkrankung zusammenhängen. Mediziner beschreiben dies gerne als: „Man kann auch Flöhe und Läuse haben.“] (Wikipedia 2007)
Besonderheiten der Depressionen im höheren Alter
- ausgeprägte Fluktuationen der Symptome
- Überlagerung der Depressionssymptome durch kognitive Störungen: Wahrnehmung, Erkennen, Vorstellen, Urteilen, Gedächtnis, Lernen und Denken
- Dominanz somatischer Erkrankungen (der körper betreffend) und hypochondrische Befürchtungen
- Ängste, Klagen, paranoide Symptome
Traurig oder depressiv?
Traurigkeit ist keine Depression. Aber es kann nach dem Verlust des Ehepartners oder eines nahen Verwandten eine Depression eintreten. Etwa 15% aller Trauerzustände gehen in eine langanhaltende und behandlungsbedürftige Depression über. Zu Trauer und Depression gehören Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen, innere Unruhe, Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit und Interesseverlust. Hoffnungslosigkeit, herabgesetztes Selbstwertgefühl und Suizidgedanken treten bei Trauernden nicht auf.
In der Differentialdiagnose unterscheidet man vier typische Probleme: „Abgrenzung zwischen anhaltender Trauer und Depression nach Verlust, Unterscheidung zwischen körperlicher Krankheit und somatisierter Depression, Differenzierung zwischen Persönlichkeitsstörung und pseudoneurotischen Verhaltensweisen bei Depression sowie Auseinanderhalten von organischer Hirnkrankheit und depressiver Pseudodemenz.“ (Depressionen im Alter, Steinkopf Darmstadt 1997, S. 39) Diese Diagnose gehört in die Hände von Fachleuten.
Erkrankungsursachen
Während bei jüngeren Depressiven die erbliche Veranlagung eine große Rolle spielt, stehen bei älteren Betroffenen die Lebensumstände und ungünstige Lebensereignisse im Vordergund. Auch körperliche Krankheiten und organisch bedingte psychische Störungen begünstigen das Entstehen einer Depression.
Wer schon im jüngeren Alter an Depressionen litt oder eine depressive Persönlichkeitsstruktur hat, trägt ein erhöhtes Risiko, auch im späteren Alter zu erkranken.
Soziale Isolierung, Einsamkeit, kaum sozialer Rückhalt und Konflikte mit Angehörigen bilden bedeutende Risikofaktoren.
„Die Schwermut und Verzagtheit, die manchmal dem Gehorsam gegenüber Gottes Moralgesetz zugeschrieben werden, sind oftmals auf die Mißachtung der Naturgesetze zurückzuführen. Solche, deren moralische Kräfte durch Krankheit geschwächt sind, sind nicht imstande, das christliche Leben, die Freuden der Erlösung noch die Schönheit der Heiligkeit richtig darzustellen. Sie befinden sich zu oft im Feuer des Fanatismus oder in kalter Gleichgültigkeit und unbeweglichem Stumpfsinn. The Signs of the Times Nr. 42, 1885.“ (E.. White, Gesundes Leben S. 39)
Was können Angehörige tun?
Das Idealbild einer harmonischen Großfamilie, die glücklich zusammenhält, wo einer den anderen annimmt und schätzt, man den Schwachen trägt, jeder Anteil am Leben des anderen hat und das Gefühl der Einsamkeit unbekannt ist, stellt die wirksamste Prophylaxe gegen Depressionen dar. Unsere Gesellschaft und Lebensverhältnisse sind so organisiert, dass Großfamilien die Ausnahme bilden. Dennoch muss der Kontakt zwischen den Generationen nicht abbrechen. Besuche, Telefonate und Briefwechsel sind uns problemlos möglich. Die Großeltern sollten nicht das Gefühl haben, sie wären nur einen Anruf wert, wenn auf dem Konto der Enkel eine größere Summe eingegangen ist.
Die achtzigjährige Großmutter war vielleicht ihr ganzes Leben mit dem Aufziehen ihrer Kinder und Enkel beschäftigt, hat dann ihre pflegebedürftigen Eltern und Schwiegereltern betreut, zwischenzeitlich ihren Mann zu Grabe getragen – und gerät nun in einem Pflegeheim in Vergessenheit? Sind wir an dem Punkt angekommen, dass bei den Aufrufen zum Jahresende, doch an die Bedürftigen in Afrika zu denken, an benachteiligte Kinder, an sozial schwache Familien, an Tierheime usw., auch an unsere alten Verwandten zu denken? Niemand hat es verdient, vergessen zu werden! „… verachte deine Mutter nicht, wenn sie alt wird.“ Sprüche 23,22
Wohin eine Menschengruppe ohne die Weisheit des Alters steuert, ist überall zu beobachten.
Die Bibel lehrt uns, die älteren Menschen als weise, erfahrene Vorbilder zu achten. Ein Achtzigjähriger, von dessen Lebenserfahrung seine Enkelkinder profitieren können, der als kluger Gärtner dem Nachbarn Tipps geben kann oder dessen Nüchternheit die Gemeinde vor einem Irrweg bewahrt, darf sich gebraucht fühlen.
Fragt die Alten um Rat! Statt einen erdachten Roman zu lesen, hört ihre Lebensgeschichte an! Werft einen Blick auf euer Verhalten und überlegt, ob ihr selbst so als Ältere behandelt werden wollt!
Angehörige können und sollten die ersten Schritte beim Verdacht auf eine Depression einleiten, sich Rat suchen, Wissen aneignen und nicht zuletzt Gott um Hilfe bitten. Schon das Finden eines vertrauenswürdigen, engagierten Arztes ist ein Geschenk Gottes. Eine unbehandelte Depression kann binnen kürzester Zeit zum völligen Verlust der Selbstständigkeit führen – ich habe es erlebt und weiß auch, was das für die Angehörigen bedeutet.
Wenn der ältere Mensch bereits depressiv ist, sind viel Geduld, Liebe und Kraft nötig. Damit der Betreuer nicht bald selbst zum Patienten wird, sind Glaubensstärke und die Kraft Gottes nötig. Pflegende von Depressiven müssen sich immer wieder bewusst machen, dass es sich um ein ernstes Krankheitsbild handelt, nicht um schlechte Laune, Missgunst, Schikane oder Bequemlichkeit. Um die Lebensqualität des Erkrankten zu verbessern und die Betreuung zu optimieren, sind fachärztliche Hilfen nötig. Wie schwer diese aber manchmal zu erhalten sind, weiß ich aus Erfahrung. Für manche Ärzte scheint eine Depression zum Alter zu gehören wie graues Haar oder Stirnfalten. Ist dann ein engagierter Arzt gefunden, sollte offen angesprochen werden können, welche Therapien vom christlichen Standpunkt aus zu vertreten sind und wovon Abstand genommen werden möchte. Jeder gute Arzt respektiert das.
„Angehörige und Pflegende sind ansteckungsgefährdet, weil depressive Klagen als Appell Mitleid, als Beziehungsklage Ärger wecken und in der Selbstoffenbarung der gekränkte Rückzug zurückstößt. Angehörige sind in der Pflege überfordert (84% der Pflegebedürftigen wurden 1996 zu Hause versorgt), überbesorgt, frustriert und hilflos durch das ständige „Ja, aber“ des Depressiven, genervt vom Jammern, bis sie selbst aggressiv die Heimaufnahme veranlassen. Die daraus folgenden Schuldgefühle gefährden Angehörige, selbst depressiv zu werden oder projektiv an den Pflegenden im Heim herumzunörgeln.“ (Depressionen im Alter, Steinkopf Darmstadt 1997, S. 227)
Was kann die Gemeinde tun?
Was Angehörige, oft aus Entfernungsgründen, nicht leisten können, kann zu einem gewissen Teil die Gemeinde abfangen.
Besuche, Abholen zum Gottesdienst, Vorlesen aus der Bibel oder miteinander Beten sind Möglichkeiten, die älteren Glaubensgeschwister am Gemeindeleben teilhaben zu lassen. Aber auch ganz praktische diakonische Hilfe wird nötig sein. Darüber hinaus sollten Zuspruch und Hilfe für die Angehörigen nicht vergessen werden.
Zusammenfassung
Aus dem schon zitierten Buch Depressionen im Alter möchte ich einige Abschlussgedanken entnehmen, die sich unter der Überschrift Pflegende können helfen finden und diese mit eigenen Erfahrungen ergänzen:
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Beziehung zum Kranken aufbauen, zuhören, ermutigen
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zu kleinen Aufgaben anleiten, Depressive brauchen Erfolge, dabei aber keine zu hohen Erwartungen hegen
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Pflegende sollten nicht depressives Verhalten loben und depressives Verhalten ignorieren
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klare Tagestruktur planen
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Es sollte erlaubt werden, über Trauer, Wut, Schuld, Scham, Wünsche und Probleme zu sprechen. Dabei ist ein verzerrtes Bild zu korrigieren. Fragen des Lebenssinns, Vergebung und Versöhnung, auch mit sich selbst, sind wichtig. Trost aus der Bibel hört ein alter, depressiver Mensch mit großer Dankbarkeit.
„Weil Gottes Liebe so groß und unwandelbar ist, sollten die Kranken ermutigt werden, ihm zu vertrauen und getrost zu sein. Um sich selbst besorgt zu sein, verursacht Schwäche und Unbehagen. Wenn sie sich über Niedergeschlagenheit und Schwermut erheben, wird ihre Aussicht auf Genesung viel größer sein; denn „des Herrn Auge sieht auf die, … die auf seine Güte hoffen“. Psalm 33,18. “ (Diener des Evangeliums S. 193)
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Alle 8 Heilfaktoren – gesunde Ernährung, Bewegung, frische Luft, Wasser, Sonnenschein, Mäßigkeit, Ruhe und Gottvertrauen – sind Antidepressiva.
Der Kranke braucht eventuell bei all diesen Dingen Hilfe (Waschen, Baden, Essen, Kleidung, Spaziergänge, eventuell Gehhilfen oder Rollstuhl). Da Ruhe meist im Überfluss vorhanden ist, sind Anregungen nötig.
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Die Behandlung zusätzlicher Erkrankungen ist wichtig.
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Vorsicht bei Suizidgefahr! Aufsicht und Beobachtung eventuell auslösender Einflüsse (Ärger, Probleme, Schmerzen …)
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Umgebung angenehm gestalten, freundliche Farben, Musik, Zimmerpflanzen Besonders Haustiere sind eine gute Therapie.
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zu Kontakten ermutigen, Gemeinde, Nachbarschaft
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Wo möglich, kleine soziale Aufgaben übernehmen lassen – Selbstachtung und „Ich werde gebraucht!“
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Als Pflegender bei Überlastung Hilfen einschalten, sich nicht mit Selbstvorwürfen quälen. Schimpfen und Klagen helfen nicht, ebenso wenig das völlige Aufgehen in der Pflege und der Problematik des Erkrankten. Ein selbst depressiv gewordener Angehöriger findet sich schnell selbst in der Rolle des Pflegebedürftigen. Damit ist niemandem gedient.
„Der Herr hält alle, die da fallen, und richtet alle auf, die niedergeschlagen sind.“ Psalm 145, 14